Über die Wohnlichkeit der Welt

So lehren uns viele Volksweisheiten etwas über das Leben, so manche Sprüche, die in Familien von Generation zu Generation weitergereicht werden, weil sie sich offensichtlich im Alltag der Familie bewährt haben, oder Bauernregeln, die ja auch aus der Beobachtung der Natur und des Lebens herrühren, eine Regel, wie etwa diese: „Menschensinn und Juniwind ändern sich oft sehr geschwind.“

Lebensweisheiten, die helfen, das Leben in seinen oft undurchsichtigen Facetten zu begreifen, indem sie eine gewisse Ordnung der Dinge in Erinnerung rufen oder diese vielleicht erst erkennen lassen, die einen wieder auf den Boden der Tatsachen bringen oder zumindest mal ins Nachdenken, wo wir sonst blind drauflosrumpeln, die einen auch vor den Kopf stoßen können und manch Unangenehmes, vor dem man die Augen verschließt, ins Bewusstsein hebt.

Und natürlich können sie auch Banalitäten benennen, vielleicht auch, weil diese Banalitäten eben nicht so banal sind. „Mein Kind, prüfe, was für deinen Leib gesund ist; und sieh, was ungesund ist, das gib ihm nicht.“ Was wie ein Wort aus einem heutigen Essensratgeber klingt, das wusste schon der weise Jesus Sirach vor 2000 Jahren zu benennen. Unsere menschlichen Hausaufgaben für ein gutes Leben haben sich offensichtlich nicht geändert.

Denn darum geht es der Weisheit, dieser Weisheit, die so wunderschön in unserem heutigen Predigtabschnitt beschrieben ist, wie sie von Anbeginn her anwesend ist und die Schöpfung begleitet, wie sie vor Gott und auf der Erde spielt und ihre Lust hat mit dem Menschenkindern. Ein Leben, das so fröhlich erscheint und so leicht von der Hand geht, das lebt die Weisheit vor. Ein Leben, zu das uns die alltäglichen Lebensweisheiten, die wir kennen und schätzen gelernt haben, auf die wir vertrauen und nach denen wir uns richten, am Ende des Tages auch anleiten wollen.

Dass wir nun diese Weisheit in der Bibel finden, ist schon einmal eine gute Nachricht. Und dass wir sie dort als Geschöpf Gottes finden, doch auch. Denn unsere Zeit rechnet doch gar nicht mehr damit, dass der Gott im Himmel die Weisheit auf Erden gepachtet hätte.

Vielmehr fragen sich doch nicht wenige, auch in unseren Kirchen, bei den alltäglichen Schreckensmeldungen, wo dieser Gott denn überhaupt zu finden sei in all dem Aufruhr, der Unruhe, der Not der Welt – und mit ihm das gute Leben. Statt nach der Weisheit Gottes zu suchen und zu fragen, sehen sich viele zurückgeworfen auf sich selbst, damit das eigene Leben gelingt. „Ein jeder ist seines Glückes Schmied.“ wird da zur Lebensweisheit – oder etwas frommer: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ – oder etwas martialischer, wie ich es aus den Mündern so mancher Manager schon gehört habe: „Nur die Harten kommen in den Garten.“

Wie anders da doch die Weisheit Gottes daherkommt und sie dabei unseren Blick auf das lenkt, was uns an Güte und Schönheit tagtäglich umgibt, auch hier in unserer Region. Wo die Weisheit von den Meeren und Quellen spricht, da habe ich die Seen unserer Region vor Augen, den Ammersee etwa oder die Osterseen, da nehme ich auch die vielen Bäche und Flüsse unserer Stadt wahr, denke ich an deren schöne Stellen an Würm oder Amper etwa, oder erinnere mich an Wanderungen an der stets sich neu mäandernden Isar. Wo die Weisheit von den Schollen des Erdbodens spricht, da sehe ich die Felder des Dachauer Hinterlands grünen und blühen, da freue ich mich auf die Erdbeerernte in der Rothschwaige. Wo die Weisheit von den Bergen und Hügeln spricht, da lasse ich innerlich so manchen Blick schweifen in die Alpen und Hügel des Alpenvorlands.

Und natürlich denke ich auch dabei an das, was an dieser Güte und Schönheit nicht mehr so gut und schön ist, gerade auch, weil wir Menschen in unserer menschlichen Torheit es meinen, besser machen zu müssen, an Bäche in Dachau, die unter vierspurigen Straßen verschwinden, an Brachflächen und tote, weil versiegelte Schollen in unserer nächsten Umgebung, an Berge, die zerfallen, weil das einstmals ewige Eis dahinschmilzt.

Ist es das, was die Weisheit Gottes uns heute sagen möchte, wenn sie spricht: „Wer mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.“?

Zumindest schärft sie unsere Wahrnehmung auf eine bestimmte Art und Weise, die sich vielleicht so sagen lässt, dass Gottes Güte dieser Welt einwohnt und sie deshalb für uns Menschen und für alle anderen Geschöpfe überhaupt erst wohnlich wird. „Und siehe, es war sehr gut.“ So heißt es ja an jedem Schöpfungstag in Genesis 1. Weisheitliches Sprechen und Denken, wie wir es in der Bibel vorfinden, lehrt uns, wie wir diese Wahrnehmung tagtäglich einüben können, indem sie uns Orientierung gibt, wie wir diese von Gott geschenkte Wohnlichkeit vorfinden und auch was der Wohnlichkeit der Welt dient und was eben nicht.

So lassen sich etwa die Lebensweisheiten des Buches der Sprüche aufnehmen, etwa dieser: „Wer Streit anfängt, gleicht dem, der dem Wasser den Damm aufreißt. Laß ab vom Streit, ehe er losbricht.“ (Spr 17,14) Dass Streit die Wohnlichkeit der eigenen Welt gefährdet, indem sie mit all dem, was ein Streit mit sich bringt, überflutet werden kann, brauche ich sicherlich nicht erläutern. Das leuchtet ein. Und doch wird gestritten – und die Erfahrung solch einer Überflutung gemacht.

Ganz lebenspraktisch ist also dieses weisheitliche Sprechen und Denken, denn es will nichts anderes, als dass unser Leben gelingt, weil es aus der Weisheit des Gottes schöpft, der dieses Leben schafft und erhält, ja rettet, wenn es vom Tode bedroht ist. Daher ist diesem Sprechen auch nicht das fremd zu benennen, was unheimlich, widersinnig, ja lebensbedrohend in dieser Welt sein kann. „Drei sind nicht zu sättigen, und vier sagen nie: Es ist genug: Das Totenreich und der Frauen verschloßner Schoß, die Erde, die nicht des Wassers satt wird, und das Feuer, das nie spricht: es ist genug.“ (Spr 30,15b.16)

Mit solchen Worten ist die Lebensfeindlichkeit von Tod oder Unfruchtbarkeit, von Naturkatastrophen durch Überflutung oder Feuer nicht behoben, aber zumindest benannt und die Wohnlichkeit dieser Welt trotz dieser Erfahrungen festgehalten. Damit schüttet die Weisheit eben nicht das Kind mit dem Bade aus, sondern bleibt in der Spur eines Glaubens an einen gütigen Gott trotz der Bedrohung der Güte der eigenen Welt.

Dass diese Spur von Christus her und auf Christus hin zu ziehen ist, das mag der Grund sein, weswegen gerade diese Worte über die Weisheit Gottes heute an Jubilate uns zu bedenken mitgegeben sind, mitten in der Osterzeit, in der wir Christi Überwindung des Todes noch deutlicher als sonst vor Augen haben und feiern – und damit die Güte Gottes, die eben größer und mächtiger ist als alles, was die Wohnlichkeit unserer Welt zu bedrohen, gar zu zerstören vermag. Mit dem Verweis auf die Weisheit Gottes dürfen wir uns nun als  angeregt und angeleitet begreifen, diese Güte Gottes in unserer eigenen Welt wahrnehmen zu lernen. Dann wird für uns gelten, was die Weisheit uns verheißt: Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN. Amen.

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