Institutionalisierte Freigebigkeit

Geliebte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

Sozialwahl – „ich bin dabei“ – so lautet die Überschrift zu dem Tag, der nun vor uns liegt. „Ich bin dabei“: ich höre das als einen Motivationsruf, mitzumachen, teilzunehmen an den kommenden Sozialwahlen, aber auch mitzuwirken in den Selbstverwaltungs-gremien der Sozialversicherungen, als ehrenamtlicher Arbeits- und Sozialrichter.

Was aber könnte dazu motivieren, „dabei zu sein“? Wir werden heute sicher einige Antworten dazu hören bei den unterschiedlichen Referaten. Ich bin schon gespannt, was so motiviert, dabei zu sein.

Mich beeindruckt jedenfalls die Bedeutung der Aufgabe, die alleine schon an so ein paar Zahlen deutlich wird: etwa wenn ich mir vor Augen führe, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung im vergangenen Jahr rund 270 Milliarden Euro bewegt worden sind und in der Gesetzlichen Krankenversicherung rund 210 Milliarden Euro – Größenordnungen, die dem Bundeshaushalt mit 300 Milliarden Euro schon sehr nahe kommen.

Die Bedeutung wird auch an der schieren Alltäglichkeit deutlich, mit der die Sozialversicherungen den Alltag prägen. Die meisten von uns tragen eine Krankenversicherungskarte in ihrem Geldbeutel mit sich herum, eine Karte, mit der man bei den meisten Ärzten und Krankenhäusern in diesem Land eine Leistung erhält, die sich nicht an dem orientiert, was man zahlt, sondern was man benötigt.

Vermutlich alle, die hier sitzen, kennen Menschen, die ihr Leben mit einer Rente bestreiten – und die allermeisten Menschen, deren Pflege von der Pflegeversicherung teilfinanziert wird, Menschen, die in Arbeitslosigkeit Geld von der Arbeitslosenversicherung erhalten oder erhalten haben, und vielleicht auch Menschen, deren Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit die Unfallversicherung bezahlt hat.

Bei allem, wo es Not täte, die Sozialversicherungen zu entwickeln – und sie unterliegen ja auch beständigen Veränderungen, was ich gerade bei meiner Tätigkeit in der AOK Bayern hautnah erlebe – ist es doch beeindruckend, dass ihre schiere Existenz, ihr Dazugehören zu unserem Alltag und unserer Gesellschaft schlicht und ergreifend nicht in Frage gestellt wird – zumindest von der eindeutigen Mehrheit in unserem Land.

Dass mit der AfD nun eine neue Partei in die Parlamente eingezogen ist, die diesen gesellschaftlichen Konsens in Frage stellt durch Überlegungen zur Privatisierung der Arbeitslosenversicherung und der Unfallversicherung, kann ich mir nur damit erklären, dass der Mehrheit ihrer Wähler diese Forderungen nicht bekannt waren. Wenn sich solche Forderungen durchsetzen sollten, dann wäre der soziale Frieden in unserem Land gefährdet – das ist meine Überzeugung.

Denn soweit mir die Geschichte der Sozialversicherungen vertraut ist, waren sie von Anfang an dazu gedacht, sozialen Frieden in unserem Land zu schaffen, indem sie dem Einzelnen Schutz gewähren vor Lebensrisiken, mit denen man als Einzelner schlicht und ergreifend überfordert wäre.

Bemerkenswert für mich als evangelischen Pfarrer ist, dass diese Aufgabe bei ihrer Einführung christlich begründet wurde. So ließ es Kaiser Wilhelm I. in seiner Kaiserlichen Botschaft vom 17.November 1881 wie folgt verlautbaren:

„Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der enge Anschluss an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von anderen Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würden.“

Die Sprache mag befremden und transportiert natürlich auch Elemente eines Staats- und Volksverständnisses, die wir heute sicherlich nicht mehr teilen. Und natürlich darf man nicht unterschätzen, welchen machtpolitischen Schachzug der deutsche Kaiser in Reaktion auf das Erstarken der sozialdemokratischen Bewegung hier vollzogen hat.

Und doch ist es für mich bis heute sehr nachvollziehbar, weswegen gerade die sozialen Versicherungssysteme in unserem Land sich christlich begründen lassen.

Da ist zum einen der Gedanke des Teilens derer, die mehr haben, mit denen, die weniger haben. Luther nennt dies „Freigebigkeit“ und erläutert dazu in seiner Schrift „Von den guten Werken“ in seiner Auslegung des 7.Gebotes („Du sollst nicht stehlen“) folgendes: „Wahrhaftig, an diesem Gebot kann man am klarsten bemerken, wie sehr alle guten Werke im Glauben gehen und geschehen müssen. Denn hier empfindet es ganz gewiß jeder, daß der Grund des Geizes das Mißtrauen, der Grund der Freigebigkeit aber der Glaube ist. Denn weil er Gott vertraut, ist einer auch freigebig und zweifelt nicht daran, er habe immer genug. Umgekehrt ist einer deshalb geizig und sorgenvoll, weil er Gott nicht vertraut.“

Nur wer glaubt, dass ihm von Gott gegeben ist und immer genug gegeben wird, der kann selbst freigebig teilen. So könnte man diesen Gedanken Luthers fassen. Nach Luther würden daher die Sozialversicherungen zwei Funktionen erfüllen: sie sind eine Form institutionalisierter Freigebigkeit für alle die, die am Ende des Monats auf ihren Gehaltszettel schauen und sagen können: „Danke, dass mir so viel gegeben ist.“ und zum anderen eine Form institutionalisierten Schutzes gegen den Geiz für alle die, die am Ende des Monats auf ihren Gehaltszettel schauen und von ihren Sorgen übermannt werden.

Ich für meinen Teil kann nur sagen: ich kenne beides – und daher bin ich froh, dass dieses System nicht von meinem schwankenden Gottvertrauen abhängt. Und doch bleibt es eine schöne, kleine Glaubensübung, sich den eigenen Gehaltszettel anzuschauen und sich zu fragen, wie groß die eigene Freigebigkeit ist.

Hier kommt für mich auch der zweite wesentliche Gedanke christlicher Ethik ins Spiel. Denn die Sozialversicherungen nehmen eine politische Funktion wahr, die ich bereits benannt habe – sie schaffen Recht und Frieden in unserem Land. So sagt es die Barmer Theologische Erklärung in ihrer V.These: „Fürchtet Gott, ehret den König! (1.Petr. 2,17) Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt…nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“

Und so heißt es ja auch in der aktuellen Denkschrift der EKD: „Der wirtschaftliche Schutz vor den großen sozialen Lebensrisiken ist in unserem Staat ein Rechtsanspruch.“ Ein Rechtsanspruch, der sozialen Frieden schafft.

Ich komme noch einmal zum Gehaltszettel zurück: Wäre es der Willkür jedes Einzelnen überlassen, wie viel er am Ende des Monats in Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- oder Rentenversicherung einzahlt, wäre das System gewiss nicht funktionsfähig. Hier muss einfach der Staat für Recht und Frieden sorgen.

Dass er dies nun in Form einer Selbstverwaltung tut, ist bemerkenswert. Heutzutage wird das vielfach als Delegation hoheitlicher Rechte an die Beitragszahler gesehen. Dabei ließe sich in der Logik christlicher Ethik sagen: Der Staat stellt damit nur fest, dass die Beitragszahler mit ihrer Mitgliedschaft und Beitragszahlung ein Amt haben, einen Beruf ausüben. Und dieser Beruf ist aller himmlischer Ehren wert. So wie Luther in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ die himmlische Würde jedes Amtes, jedes Berufs beschreibt: „Ein Schuster, ein Schmied, ein Bauer – ein jeglicher hat seines Handwerks Amt und Werk…und ein jeglicher soll mit seinem Amt oder Werk den andern nützlich und dienlich sein…“

Zu dieser Berufung der Beitragszahler zählt, dass sie Verantwortung für die Verwaltung der Mittel tragen sollen – im Rahmen der vom Staat gesetzten rechtlichen Vorgaben.

Wer also bei den Sozialwahlen seine Stimme abgibt, der nimmt seine berufliche Verantwortung als Mitglied seiner Sozialversicherung wahr. Und wer sich dann noch zur Wahl stellt und in den Gremien der Selbstverwaltung mitwirkt, umso mehr.

Hier nützlich und dienlich zu sein ist eine große Aufgabe.

Man braucht sich nur vor Augen zu führen, welche Entwicklungen die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungen beeinträchtigen werden. Ich nenne hier nur vier, die mir selbst vor Augen sind und die Sie selbst sicherlich ergänzen können:

  • unsere alternde Gesellschaft,
  • Globalisierungs- und Digitalisierungsprozesse, die zur breitflächigen Umwälzung von Arbeitsverhältnissen führen dürften,
  • Auswirkungen der Niedrigzinspolitik der EZB auf die Finanzausstattung und
  • die Versicherung der in unserem Land Zuflucht gefundenen Menschen – wobei ich hier nicht die Kosten meine, sondern die schlichte Organisation der Anmeldung und Betreuung im Bedarfsfall.

Diese Entwicklungen zu bedenken und gute Entscheidungen in den Selbstverwaltungsgremien zu fällen, die all denen gerecht werden, die als Beitragszahler, als Leistungsempfänger, als Leistungserbringer und als Mitarbeiter in den Versicherungen Teil des Sozialversicherungssystems sind, ist anspruchsvoll. So anspruchsvoll, dass das Risiko des Scheiterns immer inbegriffen ist.

Umso mehr braucht es guten Mut bei der Erfüllung der Aufgaben. Diesen Mut dürfen Christen schöpfen aus dem Glauben, dass sie mit ihrem Gelingen wie mit ihrem Mißlingen nicht allein gelassen sind, sondern alles vor Gott zur Sprache bringen dürfen, ihre Not klagen, ihren Dank ausdrücken und ihre Bitte um Segen zu Gehör bringen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen guten Mut, um möglichst viele Beitragszahler zu begeistern zu der Aussage: „Ich bin dabei.“ Amen.

(Wort zum Tag gehalten auf der BVEA/EAG-Veranstaltung zur Sozialwahl am 9.4.2016 in Rummelsberg)

 

 

 

 

 

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