Die Eltern ehren

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
2.Mose 20,12

Geliebte AEU-Mitglieder, geliebte Gäste,

das 4.Gebot, das wir soeben hörten und das heute die alttestamentliche Losung ist, sticht aus drei Gründen aus dem Dekalog hervor. Es ist zum einen das einzige der Zehn Gebote, das mit einer Verheißung verbunden ist. Denn vollständig lautet dieses Gebot: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebst auf Erden.

Zum zweiten befindet es sich an der Nahtstelle zwischen der ersten und der zweiten Tafel der Gebote – der ersten Tafel, in der es um die Gottesliebe geht, der zweiten Tafel, in der es um die Nächstenliebe geht.

Zum dritten ist das 4.Gebot jenes der Zehn Gebote, dessen Zuspruch und Anspruch sich am meisten wandelt über einen gesamten Lebenslauf. Es bedeutet einem Kinde etwas anderes als einem flügge gewordenen jungen Menschen; es klingt anders in den Ohren einer jungen Familienmutter oder eines jungen Familienvaters, die sich zum ersten Mal zugleich als Subjekt und Objekt dieses Gebotes erleben, als in den Ohren von gestandenen Frauen und Männern, die mit einem Mal in Umkehr der Verantwortung sich um ihre schwächelnden, ja, pflegebedürftigen Eltern zu kümmern haben.

Und weil das 4.Gebot auf bemerkenswerte Weise unseren Lebenslauf hier auf Erden überspannt, darum ist es wohl mit dieser großen Verheißung verknüpft: auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden.

Was aber könnte es mit dieser Verheißung auf sich haben? Und wie hängen die drei Beobachtungen, die ich eingangs erwähnte, miteinander zusammen?

Hören wir auf die Auslegung Luthers im Kleinen Katechismus:

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden.

Was ist das?

Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsere Eltern (und Herren) nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.

Zuerst müssen wir wissen: Luther leitet die Auslegung jedes Gebotes mit der Formel „Du sollst Gott fürchten und lieben“ ein. Jedes Gebot leitet sich vom Ersten ab, von der Gottesfurcht und der Gottesliebe. Aber welche innere Logik greift hier, wenn diese Ableitung erfolgt?

Die Eltern, sie sind die ersten Menschen, deren Autorität wir als Kinder erleben. Es ist eine Autorität, die im guten Sinne unser Leben ordnet, uns überhaupt ins Leben einführt, uns lebensfähig macht.

Sie sind auch die ersten, die uns nahe sind, deren Liebe, aber auch deren Laster wir zu spüren bekommen, die so tief prägend sind, dass sie uns formen, unsere Sicht auf andere Menschen, auf die Welt in der wir leben, auf uns selbst.

Ihre Autorität wirkt sich aus als Autorenschaft in unserem Leben, und das auch, wenn sie gar nicht da sind, nicht greifbar sind, nur Leerstelle bleiben. Das gilt oft, nicht immer, aber oft für die Väter: Väter, die im Krieg gefallen sind, die gegangen sind, die immer arbeiten waren.

Durch ihre besondere und einmalige Macht prägen die Eltern daher auch unseren Blick auf den Vater im Himmel. Liebende Eltern erschließen uns die Liebe des Vaters im Himmel, gerechte Eltern seine Gerechtigkeit, zürnende Eltern seinen Zorn. Sie tun dies jedoch in der Weise, in der es Menschen tun, mit ihren Gaben und Grenzen.

Und so ist uns von Anfang unseres Lebens die Aufgabe gestellt, Gottesfurcht und Gottesliebe in Ableitung und Abgrenzung von dem entdecken zu lernen, was wir von unseren Eltern erfahren haben. Hier liegt die Schnittstelle, von der ich eingangs sprach, zu der 1.Tafel der Gebote. Das 4.Gebot hat eben Anteil an der Einübung der ersten drei Gebote, der Gebote zur Gottesfurcht und Gottesliebe.

Es liegt aber auch ein besonderer Sinn darin, dass die 2.Tafel mit diesem Gebot eingeleitet wird, die Gebote der Nächstenliebe. Denn die Eltern sind unsere ersten Nächsten. An ihnen und mit ihnen lernen wir Nächstenliebe, d.h. die Liebe zu denen, die uns besonders nahe sind oder besonders nahe kommen, mit ihren guten wie mit ihren bösen Seiten.

Auch unsere Eltern sind wie alle Menschen nicht perfekt. Und daher fangen wir auch mit ihnen als unseren ersten Nächsten an, was es heißt, Menschen in ihrer Unvollkommenheit zu lieben. Vater und Mutter ehren heißt genau dies, beide in der uns so offensichtlichen Unvollkommenheit, mit ihren wunderbaren wie fürchterlichen Seiten, als unsere ersten Nächsten lieben zu lernen. Und dieses Lieben lernen hört unser Leben lang nicht auf. Es verändert sich, es gewinnt an neuen Facetten, es hat leichte und es hat schwere Zeiten.

Und wenn wir uns darin einüben und von den Worten dieses Gebotes anleiten lassen, dann liegt eine große Verheißung für unser Leben darauf. Eben, weil in die Beziehung unserer Eltern von Anbeginn das Beziehungsgeflecht eingewoben ist, in dem wir uns unser ganzes Leben hindurch bewegen – die Beziehung mit Gott und die Beziehungen mit den vielen Menschen, die eine Rolle spielen für uns und für die wir eine Rolle spielen und die uns darin nahe kommen.

An dem Ehrenkönnen der Eltern hängt es, ob und wie wir uns auch in diesem Beziehungsgeflecht bewegen – mit Ehrfurcht, Liebe und Respekt oder in innerem Widerstand, Ablehnung oder Selbstüberhebung.

Mit anderen Worten: Am Ehrenkönnen der Eltern hängt, ob wir die Beziehungsfähigkeit, für die wir von Gott geschaffen sind, leben und erleben oder uns in Beziehungslosigkeit verlieren. Denn als Mann und Frau, als Zwei, als Beziehung ist der Mensch geschaffen. So lehrt es uns der Schöpfungsbericht der Genesis. Das Wesen des Menschen, seine Gottebenbildlichkeit liegt in seiner Beziehungsfähigkeit. So sind es auch immer zwei, die einen Menschen ins Leben einführen. Mögen wir diese beiden, die uns ins Leben eingeführt haben, in Ehren halten.

Amen.

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