Hebr 13,12-14: Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Geliebte Gemeinde,
wie hätten Sie diese Worte aus dem Hebräerbrief vor einem Jahr gehört, am 6.März 2015? „So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager…Wir haben hier keine bleibende Stadt“ – hätten Sie am 6.März 2015 bei solchen Worten die Menschen vor Augen gehabt, die in Syrien – damals schon –keine bleibende Stadt hatten, die im Libanon – damals schon – ihr Leben in Lagern fristeten?
Ich gebe zu, ich hätte diese Menschen nie und nimmer am 6.März 2015 vor Augen gehabt. Am 6.März 2016, heute, habe ich sie vor Augen.
Sie sind auch nicht mehr zu übersehen, in unseren Straßen und Gassen. Und es ist nicht mehr zu überhören, wie um ihr Dasein in unserem Land gestritten wird, in den Büros, in den Vereinen, in den Feuilletons unserer Zeitungen, spaltend, vorwurfsvoll und mitunter bitterböse.
Aber ich habe auch anderes vor Augen, wenn ich heute, am 6.März 2016, die Worte aus dem Hebräerbrief lese.
Ich habe das Lager vor Augen, für das unsere Stadt weltweit berühmt-berüchtigt ist, das einmal „draußen vor dem Tor“ stand. Draußen vor dem Tor, dort, wo schon immer die gesammelt, bestraft und beseitigt wurden, welche die innere Ordnung derer bedrohten oder zu bedrohen schienen, die sich eben innerhalb des Tores aufhielten, innerhalb der Stadt mit ihrem jeweiligen Recht und ihrer jeweiligen Ordnung.
Damit die Ordnung und das Recht der Stadt bleibt, hat es die Rechtsprechung draußen vor dem Tor schon immer gebraucht. Sie setzt das Stadtrecht ein ums andere Mal erneut in Kraft, indem sie urteilt und straft – und wenn die Rechtsprechung gut ist, dann wird durch sie kenntlich, wo das aktuelle Stadtrecht verbesserungswürdig ist im Sinne seiner Bürger. Draußen vor dem Tore nämlich wird oft erst sichtbar, wo das Recht in der Stadt an die Grenzen seiner Menschlichkeit stößt.
Draußen vor dem Tor, das heißt zumeist bei den randständigen Existenzen oder bei denen, die sich an den Grenzen bewegen. Die alttestamentliche Ermahnung, dass die Waisen und Witwen, die Armen und Fremden durch das Stadtrecht zu schützen seien, weist genau darauf hin, dass bei denen am Rande das jeweilige Stadtrecht vor seinem Lackmustest steht.
Das gilt auch für die Frage, wer denn überhaupt als Bürger zur Stadt zählt und damit in den Genuss des Stadtrechts überhaupt kommt. Und da sind wir bei unserem Lager. Denn das konnte nur so effektiv betrieben werden, weil den Insassen des Lagers ihre Bürgerrechte vorenthalten wurden, ja, sie per definitionem nicht mehr als Bürger mit Rechten galten, sondern als Verfügungsmasse der Staatsgewalt. Und als Verfügungsmasse spielt es keine Rolle mehr, wie man behandelt wird. Der Entmenschlichung geht immer die Entrechtung voraus.
So deutet das, was ich hier beschreibe, auch auf die Unvollkommenheit des Stadtrechts und der dazu gehörigen Rechtsprechung draußen vor dem Tor hin. Entscheidend ist, wer in den Genuss dieses Stadtrechts kommen darf – und noch jede menschliche Stadt, auch das ewige Rom und auch das heilige Jerusalem setzt hier seine klaren Grenzen. Es gibt Bürger und es gibt andere.
Und doch ist es das Bestmögliche, was wir haben in dieser Zeit. Man kann froh und dankbar sein, in einer Stadt zu leben als Bürger mit Rechten. Wer auf der Flucht ist oder in Lagern lebt, in denen andere sie nach ihrem Recht – und das heißt oft genug: nach ihren Interessen, sogar nach ihrem Gutdünken verwalten, der kann diese Freude kaum teilen.
Wir haben hier keine bleibende Stadt.
Ich habe auch vor Augen, dass ein ganzer Stadtteil im Osten unserer Stadt vor etwa 70 Jahren von Menschen besiedelt wurde, die etwas mit diesen Worten sehr wohl anzufangen wussten: Denn ihre Heimatstatt hatten sie als Bleibe verloren. Entweder lag sie in Schutt und Asche oder sie durften dort nicht mehr bleiben. Ironischerweise landeten sie hier in Dachau zuerst in dem Lager „draußen vor dem Tore“, bevor man ihnen einen Stadtteil baute.
Wie viele ihrer Nachkommen wohl heute hier sitzen? Und wie viele der Nachkommen dieser Nachkommen wohl noch hier sitzen werden – oder doch eben ganz woanders, wegen der Arbeit, wegen der Liebe, wegen des Geldbeutels, der für Dachau zu schmal geworden ist…? Werden sie dann als Bürger einer Stadt leben oder auf der Flucht sein, vor was auch immer, oder in einem Lager landen?
Wir haben hier keine bleibende Stadt.
Hören wir nur diesen Satz aus dem Hebräer, dann müsste uns zunehmend unwohl werden angesichts dessen, was dieser Satz aussagt: dass eben nichts bleibt, wie es war – und dass wir nicht wissen, nicht wirklich wissen, wie es wird, trotz all der Pläne, Vorsorge- und Vorsichtsmaßnahmen, all der Ordnung und des Rechts, welches wir für unsere Städte und damit für uns geschaffen haben und welches wir mit unserer Rechtsprechung vor dem Tore in Kraft halten.
Es gibt Kräfte, die sind mächtiger als all das, was wir planen und tun und ordnen. Das wissen wir heute noch viel besser als am 6.März 2015, weil wir uns heute wieder neu und anders erinnern an die Zeiten, in denen unsere Städte in Unordnung geraten sind, zerbombt und zerstört, zum Teil entvölkert, zum Teil bevölkert von Menschen, die auf der Flucht hierher gerieten.
„Jaja“, könnte man nun sagen, „das mag so sein, aber wir wissen doch eigentlich alle: nichts ist so beständig wie der Wandel.“ Wer so spricht, der hat wahrscheinlich im Wandel nichts zu verlieren oder meint, nichts zu verlieren zu haben.
In den Ohren derer, die der Überzeugung sind, dass sie zu den Verlierern zählen werden, kann so etwas nur abgründig zynisch klingen. Kein Wunder, dass sie im Dunkeln der Nacht oder in den Dark Rooms des Internets, auf der Straße und an den Stammtischen zum Widerstand blasen. Wer verliert schon gerne?
Und doch muss man sich ob dieser Geschehnisse nicht nur sorgen. Man muss auch hier die Frage nach dem Recht stellen. Denn in den Dark Rooms, auf der Straße und an den Stammtischen wird verbale Lynchjustiz betrieben, bis im Dunkeln Häuser brennen, weil man in der Stadt diejenigen nicht haben will, die hier doch nicht hingehören, zumindest nicht als Bürger. Höchstens draußen vor dem Tore, im Lager, da könnten sie bleiben. Da kann man sie verwalten, nach eigenen Interessen. Fakten per Gewalt schaffen – kann das im Sinne eines Rechtsstaats sein?
Und zur Sicherheit werden in Europa Zäune hochgezogen um unsere Städte herum – mit der Folge, dass wir uns selbst in einem einzigen großen Lager einrichten. Denn was ist ein Lager anderes als ein Ort, der von Zäunen umgeben ist?
Wir haben hier keine bleibende Stadt.
Wie nahe, so denke ich, sind uns doch diese Worte aus dem Hebräerbrief geworden, heute, am 6.März 2016. Wohl so nahe wie denen, die sie zum ersten Mal zu hören bekamen.
Besorgnis, Ratlosigkeit, Angst um die Zukunft prägten das Denken, das Fühlen, das Glauben dieser Gemeinde. Denn nicht ohne Grund ist der Hebräer voller Ermutigungsformeln, hebt an und fordert auf, zu glauben, zu hoffen, sich zu gedulden. Eine Variante des „Wir schaffen das!“ in neutestamentlicher Zeit?
Hören wir noch einmal die Worte des Hebräer im Zusammenhang:
Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Der Hebräerbrief verliert sich offensichtlich nicht in Motivationssprech. Im Gegenteil: er möchte das Fundament des Glaubens vor Augen führen, auf dessen Basis die Gemeinde steht und auf dessen Basis sie auch – glaubend, hoffend, mit Geduld – in die Bewegung kommt, von der hier gesprochen wird: die Bewegung hin zu der zukünftigen Stadt.
Zunächst zum Fundament: Der Hebräer sagt nicht: „Wir schaffen das.“ Er sagt vielmehr in seiner vom Opferkultus geprägten Formelsprache: „Es ist vollbracht.“ Es ist vollbracht, dass ihr gewiss sein dürft, dass euer Leben nicht verloren geht, dass ihr im Gegenteil ein unverbrüchliches Bürgerrecht habt, nicht hier auf Erden, aber in der himmlischen Heimstadt, bei Gott. Dort dürft ihr wahrhaft zuhause sein, egal, ob ihr hier ein Zuhause habt oder heimatlos geworden seid, euch auf der Flucht oder im Lager befindet.
Es gibt sie, diese himmlische Stadt mit Bürgerrechten, die vom Richter der endgültigen Rechtsprechung, von Gott selbst verbürgt ist. Und der Zugang zu dieser himmlischen Stadt ist euch eröffnet durch das, was geschah draußen vor dem Tor, durch den, den sie kreuzigten und damit so offensichtlich seiner Bürgerrechte enthoben. Gott selbst hat ihn jedoch erneut ins Recht gesetzt und damit die ins Unrecht gesetzt, die ihn entrechten wollten. Ja, noch viel mehr. Er hat uns durch ihn ins Recht gesetzt. Seither sind unsere Bürgerrechte in der himmlischen Stadt unverbrüchlich in ihm gesichert.
Mit anderen Worten: ihr seid in Sicherheit, fürchtet euch nicht –selbst wenn ihr Angst habt, eure Rechte könnten beschnitten werden und euer derzeitiges Leben in Gefahr seht, selbst wenn euch eure Rechte schon genommen wurden und ihr wie Lagerinsassen verwaltet werdet, gar auf der Flucht seid, selbst wenn ihr selbst rechtsbrüchig geworden seid und eine gerechte Strafe fürchtet – so fürchtet euch doch nicht. Denn eure Zukunft als Bürger der himmlischen Stadt ist gesichert.
Dem Hebräer ist dieser Punkt sehr wichtig. Denn die Furcht ist das, was uns nach Scheinsicherheiten Ausschau halten lässt, nach Städten, die uns nur eine gewisse Zeit Schutz bieten, an deren Grenzen wir dann doch stoßen, und die wir dennoch mit Zähnen und Klauen verteidigen gegen andere, gegen Eindringlinge und Feinde, gegen Rechtsbrecher und Unfriedenstifter. Im Städtebauen, Städteaufsuchen und Städteverteidigen sind wir alle gut.
Städte werden um Ideologien und Weltanschauungen gebaut, um Familiengeschichten und völkische Mythen, um Berufsgruppen und Parteiabzeichen, um Marken und Vereine, um Riten und Bekenntnisse – um nur einige zu nennen. Und all diese Städte, sie werden nicht bleiben – trotz unseres Engagements.
Und weil diese nicht bleiben, ist es dem Hebräer so wichtig, zum Aufbruch aufzurufen: Fürchtet euch nicht, sondern macht euch auf nach der zukünftigen Stadt, die bleibt. Führt euch vor Augen: durch Jesus Christus seid ihr schon jetzt eine Kolonie von Himmelsbürgern, hier, die ihr sitzt in diesem Gottesdienst. Das ist das, was bleibt.
Nicht die Bürgerschaft von Dachau, nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, nicht die Mitgliedschaft im ASV oder TSV, nicht die Mitgliedschaft in CSU oder SPD, nicht einmal die Mitgliedschaft in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
Die himmlische Stadt ist viel größer, viel weltumspannender. Denn der Bürgermeister dieser Stadt ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Und stellt euch vor: ihr habt dort ein Bürgerrecht. Aber ihr seid dort noch nicht angekommen, eben auf dem Weg zu dieser Stadt.
Seid ihr auf dem Weg, noch? Oder ist diese zukünftige Stadt für euch kein Ziel mehr? Seid ihr euch noch gar nicht klar, dass dort eure eigentliche Heimatstadt ist? Aber was heißt es, diesen Aufbruch zu wagen, sich auf den Weg zu machen? Alles hinter sich abzubrechen, die vorhandenen Städte zu verlassen, ohne Rücksicht auf Verluste?
So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.
Das klingt nicht danach, alle Brücken abzubrechen. Aber es klingt danach, sich vor die Tore der Städte zu begeben, dort, wo Recht gesprochen wurde und wird, an die Ränder zu gehen, um klarer zu sehen, was Unrecht und was Recht ist am Recht unserer Städte, dadurch die Not erkennen und teilen zu lernen, die dort am Rande herrscht, um dann ein besseres Recht in unseren Städten einfordern zu können – und in all dem das eigene himmlisches Bürgerrecht zu erproben, das „Fürchtet euch nicht!“ glauben zu lernen, zu entdecken, das uns das Kreuz Jesu trägt in dem Kreuz, das wir dort draußen vor den Toren zu tragen bereit sind.
Was das heißen kann? Wilhelm Willms, der als Pfarrer und Dichter mit denen am Rande der Stadt lebte, hat in seinen „Anweisungen zur Auferstehung“ folgende Worte gewählt:
glaube nicht an jerusalem
nicht an rom
nicht an moskau
nicht an peking
und nicht an washington
nicht an oben
geh nach emmaus an den rand
unterwegs werden dir im gespräch
die augen aufgehen
(…)
geh weit voraus
und habe keine sorge
sie könnten nicht mitkommen
nicht nachkommen
streu krumen hinter dich
mach alle ostergeschichten wahr
und frage nicht ob sie wahr sind
probier sie aus
ob sie auf dich passen
sie passen auf dich
sie sind keine totengeschichten
probier sie
dann wirst du sehen
es sind wahrsagegeschichten.
Amen.
(Predigt, gehalten in der Friedenskirche Dachau an Lätare 2016)