Und er hob seine Augen auf über seine Jünger und sprach: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen. Freut euch an jenem Tage und springt vor Freude; denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan. (Lk 6,20-23)
Liebe AEU-Mitglieder, liebe Gäste,
ich nehme an, dass Ihnen diese Worte allzu vertraut sind, vertraut vermutlich eher in ihrer Variante aus dem Matthäusevangelium. Wie mit allen anderen Dingen, so ist es auch mit Bibelversen. Ist man ihnen schon oft begegnet, sind sie einem vertraut, hat man sich bereits ein Urteil gebildet. Die Wahrnehmung folgt Schneisen, die man früher geschlagen hat und denen man bei der wiederholten Begegnung automatisch nachgeht.
Solch eine orientierte Wahrnehmung mag insofern dienlich sein, weil man nicht mit allem bei Adam und Eva anfangen kann. Sie kann aber auch dazu führen, dass man Wesentliches übersieht, weil es auf der eingeschlagenen Schneise nicht mehr in den Blick gerät.
Woran also orientiert sich Ihre Wahrnehmung, wenn Sie diese Verse Jesu hören?
Wenn es heißt: Selig sind die Armen, könnte man sich ja als Wohlhabender um seine Seligkeit sorgen. Und mancher im AEU hat ja schon einschlägige Erfahrungen gemacht, dass man mit einem dickeren Bankkonto eher schlecht gelitten ist in der Kirche – möglicherweise zu Recht, wie diese Verse implizieren…
Wenn es heißt: Selig sind die Hungernden, mag mancher ein schlechtes Gewissen oder eine innere Ermüdung spüren. Ja, der Hunger in der Welt wird geringer. Neueste Zahlen zeigen das. Dennoch sprechen wir immer noch von fast einer Milliarde – einer Milliarde! – Menschen, die täglich hungern müssen. Und viele, die dem Hunger entfliehen, zieht es inzwischen hierher, über das Mittelmeer bis in die Bayernkaserne. Braucht es diese zum Himmel schreiende Not, um selig zu sein? Der Zynismus in dieser Frage ist offensichtlich. Und wo und wie kommt man da selbst ins Spiel in dieser Hungersnot?
Wenn es heißt: Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen, mag man hin und her gerissen sein zwischen Menschen, die aus dem Tal der Tränen neue Gipfel erklommen haben und anderen, die im Tränental bis zum heutigen Tag feststecken. Einen klaren Pfad heraus gibt es meist nicht. Allein die Hoffnung bleibt, dass auf dem immer größer werdenden Markt von Beratung, Coaching und Selbsthilfe sich irgendwo ein Lösungsweg auftut. Aber ist das mit der Seligkeit der Lachenden so gemeint?
Wenn es heißt: Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmähen und verwerfen euren Namen als böse um des Menschensohnes willen, gibt es manche, die Erleichterung empfinden, dass es Ihnen nicht so geht wie den Christen der ersten Jahrhunderte. Und andere denken sich: „Ja, wenn die Kirche mal endlich wieder Tacheles reden würde, keine Konflikte scheuen, zum Namen Jesu stehen würde, nicht so lauwarm sein würde, dann würde sie endlich ihren Job machen! Dass dann Kritik kommt, geschenkt, das gehört sich so. Wegducken ist aber keine Option.“ Ist also ein Mangel an Verfolgung für Christen ein Kennzeichen dafür, dass man sich vom religiösen Tugendpfad entfernt hat?
All das mag mitschwingen, wenn wir auf diese Verse hören. Ich hoffe, wir überhören dabei nicht die gute Nachricht, die in diesen Versen steckt. Dazu brauchen wir die Szenerie und die Vorgeschichte dieser Verse:
Und er ging mit ihnen hinab und trat auf ein ebenes Feld.
Und um ihn war eine große Schar seiner Jünger und eine große Menge des Volkes aus ganz Judäa und Jerusalem und aus dem Küstenland von Tyrus und Sidon, die gekommen waren, ihn zu hören und von ihren Krankheiten geheilt zu werden; und die von unreinen Geistern umgetrieben waren, wurden gesund. Und alles Volk suchte ihn anzurühren; denn es ging Kraft von ihm aus und er heilte sie alle.
Was uns hier nicht nur im Wort, sondern auch in den Taten Jesu begegnet, das ist die Signatur der anbrechenden Gottesherrschaft: Unter Gottes Herrschaft, da werden die Armen leben jenseits der Überlebens, da werden die Hungernden satt, da hat alle Bedrängnis für die Trauernden ein Ende, so dass sie befreit und aus vollem Herzen lachen.
Wenn wir uns mit dieser Signatur vertraut machen, werden wir sie in Momenten unserer Gegenwart entdecken. Und jeder dieser Momente wird Schneisen schlagen auf dem Pfad eines Sinneswandels, in dem wir tiefer in die Fülle der Verheißungen Gottes eintauchen werden.
Wer exemplarisch solch einen Sinneswandel einmal nachvollziehen möchte, dem empfehle ich das Buch „Adam und ich“ des holländischen Jesuitenpaters und Theologieprofessors Henri Nouwen.
Dieser Nouwen fand nach einem bewegten Berufsleben seine letzte Wirkungsstätte in L’Arche, einer Kommunität, in der Schwerstbehinderte mit Nichtbehinderten zusammenleben. Nouwen selbst wurde ein schwerbehinderter junger Mann mit Namen Adam zur Betreuung anvertraut, der weder sprechen, schreiben noch allein einen Schritt tun konnte.
Beide wurden zu Freunden, mehr noch: Nouwen bezeichnete ihn als „Lehrer und Wegbegleiter, der mich mehr als viele Bücher oder Professoren zum Menschen Jesus geführt hat.“
Warum? Weil Nouwen sich in Adams Leben mit der Signatur von Gottes Herrschaft vertraut machte, der einen Sinneswandel mit sich brachte. Diesen Sinneswandel beschreibt Nouwen so:
„Die meisten betrachteten Adam als einen behinderten Menschen, der wenig zu geben hatte und eine Last war für seine Familie, für seine Gemeinschaft und für die Gesellschaft überhaupt … Adam war wie wir alle ein Mensch mit Beschränkungen, wenngleich mit größeren Beschränkungen als die meisten von uns … In seiner Schwachheit wurde er zu einem einzigartigen Werkzeug der Gnade Gottes …
Seine Transparenz sollte es uns ermöglichen, etwas von Gottes unbedingter Liebe zu erkennen.“
Gottes unbedingte Liebe erkennen – mögen wir reich gesegnet sein mit Momenten, die uns dies ermöglichen.
Amen.