Jes 54,7-10:
Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Liebe AEU-Mitglieder, liebe Gäste,
diejenigen, an die diese Worte gerichtet sind, sind die Kindeskinder derer, die ins Exil geführt wurden. Gut sieben Jahrzehnte war es her, dass Israel vor der fremden Besatzungsmacht Babylon kapitulieren musste, sieben Jahrzehnte, dass die neuen Herrscher die Eliten Israels vom Heiligen Land zu den Wassern des Euphrat übersiedelten. Ein bewusst und klug gesteuerter Braindrain der Besatzer, um das eroberte Land langfristig kontrollieren zu können.
Bis dato hatte Israel seine Existenz durch eine wechselhafte Bündnispolitik zwischen den Großmächten am Nil und im Zweistromland gesichert. Doch nach dieser so totalen Niederlage rechnete wohl niemand mehr damit, dass das kleine Volk vom Jordan noch einmal eine eigene Zukunft haben würde.
Diese totale Niederlage – das ist der Kontext, in den die Worte des uns mit Namen unbekannten Propheten Deuterojesaja hinein gesprochen sind. Man muss sich dies vor Augen führen, um die Unerhörtheit seines Zuspruchs zu begreifen – nicht nur verbal, sondern emotional.
„Immer wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Dieser Spruch hing früher im Praxiszimmer meiner Mutter, das sie zuhause hatte, um kranke Kinder mit ihren Eltern empfangen zu können.
Mir hat sich dieser Spruch tief eingeprägt – und ich frage mich, wie viele Eltern, die sich um die Gesundheit ihrer Kinder sorgten, diesen Spruch nicht nur gelesen haben, sondern darin auch irgendwo Trost gefunden und Mut geschöpft haben.
Kalendersprüche wie diese mögen tatsächlich Mut spenden. Sie mögen der Hoffnung Ausdruck geben, dass am Ende doch alles irgendwie gut wird.
Ist also von diesem „Irgendwie hoffen“ auch hier bei Deuterojesaja die Rede? Ist es eine Form der Autosuggestion, der motivationalen Ansprache, welche die letzten Hoffnungsressourcen in einer ausweglosen Lage mobilisiert, damit man dann irgendwie über sich und seine Situation hinauswachsen kann, damit man halt doch das Gute im Schlechten zu sehen fähig ist?
Jedes Schlechte hat ja angeblich immer auch sein Gutes, sagt der Volksmund in ähnlicher Weise und will damit helfen, Haltung zu bewahren – sogar im Angesicht der totalen Niederlage.
Doch über den Punkt, eine wie auch immer geartete Haltung zu bewahren, sind die Hörer der Worte Deuterojesajas längst hinaus. Ihre Selbstwahrnehmung wird in den Worten des Propheten kenntlich, in denen er sie anspricht: Unfruchtbar und einsam, beschämt und verspottet, verlassen und von Herzen betrübt.
Die totale Niederlage hat sich in die Seele des Volkes tief eingegraben. Kein Licht am Ende des Tunnels. Nur aushalten, was nicht zu ändern ist, und seinem Tagwerk nachgehen, so gut es eben geht.
Klingt es da nicht wie Hohn, wenn aus dem Mund des Propheten Gott selbst so anhebt: Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen…Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen…?
Diese Zeitwahrnehmung wird erst dann nachvollziehbar, wenn man sie in den Zeitrahmen der prophetischen Rede einordnet. Und diese Einordnung ist beileibe nicht unerheblich.
Was sind 70 Jahre im Angesicht des ewigen Gottes? Was sind 70 Jahre Exil mit Blick auf den ewigen Bund, den Gott mit seinem Volk besiegelt?
Ein Bund, der nicht „irgendwo wie ein Lichtlein“ daherkommt, sondern in der Geschichte des Volkes selbst begründet ist, in den Geschichten von Noah und Abraham, von Mose und David.
In ihnen erweist sich Gott als ein Gott, der sehr wohl zürnen kann, aber dessen ewige Gnade weit über seinem heiligen Zorn steht. Eine Gnade, die so ewig ist, dass sie unser menschliches Tun vergessen macht, welches Gottes Zorn erst hervorgerufen hat und dadurch einen tatsächlichen Neuanfang setzt. Vergegenwärtigen Sie sich die Worte Deuterojesajas. Nirgendwo ist da mehr von der Schuld des Volkes die Rede. Getilgt, vergessen.
Diese Befähigung zum Neuanfang ist Frucht des heilvollen, schöpferischen Tuns, mit dem Gott an uns wirkt.
Und dieses Tun Gottes wird so deutlich erkennbar in den Tagen, auf die wir zugehen, an denen wir die Geschichte Jesu nachvollziehen – hinein in die totale Niederlage, die kein Ende mit Schrecken markiert.
Denn da, wo wir die totale Niederlage sehen, wird Gott erst so richtig kreativ und verschafft einen wundersamen Neubeginn – anders als erwartet und in einer fremden Vertrautheit, die etwa die Begegnungen der Jünger mit dem Auferstandenen auszeichnet.
All das ist eine gute Nachricht für uns – auch in den Rollen, die wir in unseren Unternehmen spielen, gerade dann, wenn auch wir auf der Verliererseite stehen und kein Land mehr sehen, wenn unsere eigene Kraft und Kreativität nicht reicht, wenn uns der Mut verlässt, wenn alles weg bricht, was uns bis dato Sicherheit verschafft und Identität gestiftet hat.
Auch dann können, sollen und dürfen wir uns auf unseren Gott verlassen – und darin auf einen Neuanfang hoffen.
Denn totale Niederlagen, auch unsere totalen Niederlagen sind in der Geschichte, die dieser Gott schreibt, wohl aufgehoben. Gottes Geschichte, sie endet ja nicht mit einer totalen Niederlage, sondern mit einem heilvollen Sieg, wie es zum Ende des letzten Buches der Bibel heißt:
Und es wird keine Nacht mehr sein, und sie bedürfen keiner Leuchte und nicht des Lichts der Sonne; denn Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit. (Offb 22,5)
Im Licht dieses heilvollen Sieges – da sind sie vergeben und vergessen, unsere totalen Niederlagen. Amen.