Aus dem Weihnachtskokon

Geliebte Kolleginnen und Kollegen der vbw,

wenn ich, wie heute Morgen, auf den Adventskranz blicke, dann fällt mir dazu ein Lied ein, dass auch Ihnen vertraut sein könnte:

„Wir sagen euch an den lieben Advent.
Sehet die dritte Kerze brennt!
Nun trag eurer Güte hellen Schein
Weit in die dunkle Welt hinein.
Freut euch ihr Christen, freuet euch sehr!
Schon ist nahe der Herr.“

Freut euch ihr Christen, freuet euch sehr. Schon ist nahe der Herr.

Es ist der Kehrvers, der sich in diesem Lied Strophe um Strophe wiederholt, der Kehrvers, der durch mantrahaftes Wiederholen die singende Gemeinde hineinnehmen soll in die Weihnachtsfreude.

Vielleicht haben Sie zuhause oder Sie hier vor Ort, innerlich auch etwas mitgesummt oder den Ton dieses Liedes zumindest in Ihrem inneren Ohr gehabt.

Mit dieser Weihnachtsfreude verbindet jede und jeder ein Stück weit etwas anderes. Die eine bestimmte Gerüche oder Geschmäcker etwa von Glühwein, Spekulatius, Zimt oder gebrannten Mandeln, der andere das erleichterte Gefühl, wenn er den Rechner herunterfährt, die Bürotür zumacht in dem Wissen, ein paar freie Tage vor sich zu haben, die dritte das traute Miteinander unterm Weihnachtsbaum oder beim Weihnachtsschmaus.

Weihnachtsfreude, die auch darin begründet liegt, dass man die Welt da draußen Welt sein lässt, für ein paar Tage sich in ein Weihnachtskokon zurückzieht und vergisst, was „da draußen so alles los ist“.

Nun weiß ich nicht, wie es Ihnen geht. Bei mir stelle ich fest, dass es dieses Jahr besonders schwer, nahezu unmöglich erscheint, dieses Weihnachtskokon zu bauen. Was „da draußen so alles los ist“, lässt sich innerlich kaum abschirmen.

Zu viel ist passiert in den letzten nahezu drei Jahren, zu viele Selbstverständlichkeiten erschüttert, die die Grundlage eines Kokons waren, in dem wir uns hier in Deutschland über Jahrzehnte haben einrichten können. Selbst ein stark intervenierender Staat, der gerade das Schlimmste verhindert, kann trotz seiner Bazooka-Feuerkraft darüber nicht hinwegtäuschen.

Die Rockband „Die Nerven“ – ja, so heißen sie tatsächlich – hat für mich in diesem Sommer das Brüchigwerden dieses Deutschlandkokons in einer Refrainzeile auf den Punkt gebracht. Da singen „Die Nerven“: „Und ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie.“

Das geflügelte Wort der Zeitenwende wird hier zutreffend persönlich. Denn die tektonischen Verschiebungen, die wirtschaftlich, politisch, klimatisch im Gange sind, sind persönlich.

Viele von uns kennen Menschen, die an Corona verstorben sind, und Menschen, die eine grundsätzlich andere Haltung zu den Corona-Maßnahmen vertreten. 

Viele von uns kennen Menschen aus der Ukraine und Menschen, die Ukrainern oder in der Ukraine helfen.

Viele von uns kennen Menschen, welche die hohen Energiepreise in existentielle Nöte gestürzt haben, die einen, die trotz Decken zuhause frieren und das erste Mal in ihrem Leben aufs Amt oder zur Tafel gehen, die anderen, deren Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig handeln können.

Die Zeitenwende ist persönlich. Sie geht unter die Haut. Das Kokon, das uns vor der Zeitenwende geschützt hat, ist brüchig geworden. Irgendwie stirbt man eben doch in Europa. 

Wo und wie kann da noch Weihnachtsfreude aufkommen?

Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!

Der diese Zeilen schrieb, wusste nicht, ob er den morgigen Tag noch erlebt oder irgendwie stirbt. Der Apostel Paulus schreibt seinen Brief aus einer Gefängniszelle in Ephesus an seine Gemeinde im nahen Philippi. 

Man darf sich diese Zelle als einen Unort vorstellen, dunkel, feucht, dreckig, stickig, stinkend, gefährlich. Ein Ort, an dem die Lebensfreude in kürzester Zeit versiegt. 

Wie kann der Apostel da das „Freuet euch“ intonieren? Hat er sich ein wunderbar frommes Kokon gebaut, in dem er sich in heiliger Resilienz seine Notlage vom Leibe zu halten vermag?

Manche verstehen ja die Wirksamkeit des Glaubens so, als Tauchgang im Drachenblut, das unverwundbar macht.

Doch nicht Abschottung, sondern vielmehr Durchlässigkeit ist die Konsequenz des Glaubens. Im Brief an die Gemeinde in Philippi geht es Paulus durchwegs um die Not, die Spannungen, die Herausforderungen der Philipper-Gemeinde. Man sieht, wie er aus der Ferne darum ringt, seine Gemeinde zu begleiten. Da ist kein Kokon. Im Gegenteil, das Herz des Paulus liegt offen.

Es kann so offen liegen, weil die Durchlässigkeit nicht nur Richtung Philippi geht, sondern auch gen Himmel. Paulus‘ Worte sind durchbetete Worte. Seine Empfehlungen sind erwachsen aus dem Zwiegespräch mit Gott, denen er die Not seiner Philipper täglich anempfiehlt.

Diese doppelte Durchlässigkeit rät er auch den Philippern: Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden!

Güte gegenüber allen Menschen, betend, bittend, flehend, dankend vor Gott. In dieser doppelten Durchlässigkeit kann die Freude wachsen, die Paulus beschreibt.

Sie unterscheidet sich fundamental von der abschottenden Kokon-Freude. Ihr ist die Angst vor den Gefahren, den Risiken, den Abgründen, den Nöten dieser Welt nicht fremd. 

Sie weiß diese Angst aber zu integrieren statt sich vor ihr mit aller Kraft zu schützen. So bleibt dem, der sich in dieser Freude freut, auch seine Kraft, um der Not Abhilfe zu schaffen in Güte gegenüber allen Menschen.

Die Freude der Christenmenschen ist eine Freude nicht in Abschottung von, nicht trotz dieser Welt, sondern inmitten ihrer Nöte und tektonischen Verschiebungen. 

Es ist insofern eine höchst realistische Freude, weil die, die in ihr leben, noch nie dachten, dass man in Europa irgendwie nicht stirbt. 

Sie wissen um das Sterben in Europa und dem Rest der Welt und verzweifeln doch nicht daran, weil sie auf den nahen Gott und dessen Segen hoffen, ihn erbitten und erflehen:

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus.

So spricht es Paulus den Philippern verheißend zu. 

So sprechen wir es seither in unseren Gottesdiensten zu. Der Friede Gottes, dessen Frucht realistische Freude ist.

Mögen wir in dieser Freude der Weihnacht entgegengehen. Amen.

Predigt zu Philipper 4,4-7 im Rahmen der Weihnachtsandacht im Haus der Bayerischen Wirtschaft anlässlich der Weihnachtsfeier der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.

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