Geliebte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
es ist schon ein bemerkenswerter Zufall, dass dieses Jahr die Feierlichkeiten zum Reformationsgedenken zusammen fallen mit den Sozialwahlen, besonders bemerkenswert, so denke ich, für die EAG. Denn das Engagement der EAG in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen speist sich ja aus einer christlichen Haltung:
„Auf Bundes- wie auf Landesebene engagieren wir uns als Versichertenvertreter/-innen in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Unfallversicherung für die Einhaltung von Menschenwürde, Gerechtigkeit, Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortung in der Arbeitswelt.“ So heißt es in der wirklich gelungenen Wahlwerbebroschüre der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Arbeitnehmer-Organisationen (ACA).
Da scheint ja alles klar zu sein. Und doch schadet es vielleicht nicht, gerade in diesem Jahr den einen oder anderen Bezug herzustellen von der reformatorischen Botschaft, die ja nichts anderes sein will als eine Neuauflage der biblischen Botschaft, hin zu dem, wofür die Sozialwahlen stehen.
Die Richtung kann uns dabei zum Beispiel die Ökumenische Losung aus dem heute beginnenden Monat April weisen. Sie stammt aus dem Ende des Lukas-Evangeliums und lautet:
„Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ (Lk 24,5.6)
Es sind die Worte, welche die Frauen in der Grabstätte Jesu hören, als sie dort frühmorgens ankommen, um den Leichnam Jesu zu salben. Es sind im Lukas-Evangelium wohlgemerkt nicht Maria und Magdalena, sondern zwei Frauen, von denen wir lediglich erfahren, dass sie mit Josef von Arimathia aus Galiläa gekommen waren. Josef von Arimathia, der Jesus seine letzte Ruhestätte spendete, weil er, der selbst Mitglied des Hohen Rates war, das Todesurteil über Jesus nicht mitgetragen hatte. Als Abweichler war er nicht mächtig genug, den Tod Jesu zu verhindern, aber er konnte seinen Widerspruch dadurch kenntlich machen, dass er Jesus eine würdige Bestattung ermöglichte.
Um die Würde der letzten Ruhe Jesu ging es auch den Frauen, die da morgens kamen. Sie hatten sich auf ein Balsamierungsritual vorbereitet, das eigentlich nur Reichen und Vornehmen zustand. Es sollte wohl zum Ausdruck bringen, wie sie selbst Jesus zu Lebzeiten wahrgenommen hatten: als einen Vornehmen unter den Juden, als einen, der dieser hervorgehobenen posthumen Würdigung aller Ehren wert war.
Womit sie jedoch keineswegs rechnen konnten, war, dass Gott selbst ihnen zuvor gekommen war, indem er Jesus damit würdigte, dass er ihn, den offensichtlich Toten, zum Leben erweckt hatte.
Lukas beschreibt in dieser Geschichte und den darauf folgenden, was diejenigen – ob nun genauso oder in ähnlicher Weise – erlebt haben dürften, denen die Erkenntnis geschenkt wurde: „Er ist nicht hier – er ist auferstanden.“ Diejenigen, die den Toten erwarteten, und damit konfrontiert wurden, dass er lebendig war.
Ich glaube, man darf nicht unterschätzen, wie grundstürzend diese Änderung der eigenen Wahrnehmung gewesen sein musste. Es ist diese grundstürzende Wahrnehmungsänderung, die seither der Kern der christlichen Botschaft ist und die der Apostel Paulus für meine Begriffe uneinholbar so zur Sprache gebracht hat:
„Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ (Röm 8,38f.)
Für diese Wahrnehmungsänderung stand Jesus schon zu seinen Lebzeiten. Wer ihm nachfolgte und zuhörte, der erfuhr von dem Gott, den er als seinen Vater anrief, und von dem er erzählte als einem, der verlorene Söhne aufnimmt, der verlorene Schafe sucht, der einem jeden das Seine gibt, wie der Herr eines Weinbergs, und der einem jeden Talente schenkt, die er nicht vergraben, sondern zur Vermehrung nutzen möge, und noch vieles mehr von „dieser Liebe Gottes“. Diese Botschaft brachte die Menschen schon damals in Bewegung und noch viel mehr, als sie erfuhren, dass diese Liebe Gottes eben in Jesus, dem auferstandenen Christus, gewesen sein musste, den sie als ihren Herrn bekannten, so wie Paulus dies tat.
Die Wiederentdeckung dieser biblischen Botschaft war es auch, welche die Reformation in Bewegung brachte – und mit ihr viele Menschen. Auch hier steht am Anfang eine Wahrnehmungsänderung, ähnlich der, welche die Jünger zu Jesu Zeiten in Bewegung brachte, und doch eben zeitspezifisch. Sie ist gebündelt in der Frage Martin Luthers: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, eine Frage, aus der seine große Not und die Not seiner Zeitgenossen spricht.
Bis zu seiner Entdeckung des gnädigen Gottes konnte sich ein Luther nämlich nicht gewiss sein, dass der Gott im Himmel ihn vor der in grellsten Farben ausgemalten Hölle bewahren könnte. Dass Jesus als Gottes Sohn „hinabgestiegen in die Hölle“ diesen Weg an unserer Stelle gegangen ist, so dass wir dorthin nie müssten, läutete diese Wahrnehmungsänderung ein.
„Die Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist“, wurde für Luther so zutiefst greifbar. Und er lehrte seine Zeitgenossen diese grundstürzende Wahrnehmungsänderung selbst nachzuvollziehen – mit allen Konsequenzen. Statt in Sorge um das eigene Seelenheil gefangen zu sein, sollten sie sich als von Gott geliebte Kinder begreifen lernen, die mit Gaben beschenkt sind und mit diesen Gaben einander dienen mögen – in dem Amt, in dem Beruf, in der Aufgabe, vor die sie jeweils gestellt waren, ob als König oder Knecht.
Was könnte das aber mit Blick auf unsere sozialen Sicherungssysteme heißen?
Um Sorgen geht es ja auch in unseren sozialen Sicherungssystemen. Denn der Zweck dieser Systeme ist es, dem Einzelnen Schutz zu gewähren vor den großen allgemeinen Lebensrisiken, die einem tatsächlich Kopfzerbrechen bereiten können. Sollte solch ein Lebensrisiko wie eine schwere Krankheit oder ein schlimmer Unfall sich im eigenen Leben ereignen, ist es ja sehr gut, zu wissen, dass man nicht alleine da steht, sondern auf Unterstützung bauen kann. Und diese Unterstützung wiederum fällt nicht vom Himmel.
Sie lässt sich vielmehr beschreiben als Ergebnis einer institutionalisierten Praxis der Nächstenliebe: Jede und jeder von uns gibt einen Anteil von dem, was ihm oder ihr von Gott gegeben ist und stellt mit seinen oder ihren Beiträgen die Mittel, damit die Not anderer, sei diese nun gesundheitlicher Natur, unfall- oder altersbedingt, gelindert werden kann.
Ich halte es für wichtig und wertvoll, unsere Sozialsysteme immer wieder aus dieser Perspektive wahrzunehmen. Denn sonst wird nur noch über zu hohe Beiträge und mangelnde Leistungen geklagt, über die Kompliziertheit des Systems und die Korruptheit der Akteure – und man redet etwas schlecht, was in weiten Teilen und für viele Menschen in unserem Land tatsächlich ein echter Segen ist.
Aus der Wahrnehmung der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, darf man prinzipiell auch die als einen Segen betrachten, die als gewählte Vertreterinnen und Vertreter in der Selbstverwaltung wirken. Denn sie lassen sich in ein Amt, in einen Dienst berufen, ein Dienst an den Mitgliedern der jeweiligen Sozialversicherung.
Und auch für diesen Dienst, wenn man ihn denn als Dienst leben will und kann, ist eines ganz wesentlich: dass man sich von den Sorgen, die solch eine Verantwortung mit sich bringt – sowohl die eigenen als auch die zugetragenen Sorgen – nicht übermannen lässt, sondern sich die Fähigkeit bewahrt, in der Freiheit eines Christenmenschen nüchtern, sach- und realitätsbezogen, mit dem Wissen um seine eigene Begrenztheit und der Möglichkeit eigenen Scheiterns dennoch nach bestem Wissen und Gewissen nach der bestmöglichen Lösung sucht.
Diese Freiheit lässt sich aber nur gewinnen, wenn man darauf vertrauen kann, dass keine Sorge zu tief, kein Scheitern zu abgründig, keine Schuld zu groß ist, als dass sie „die Liebe, die in Christus Jesus“ ist, nicht zu überwinden imstande wäre.
Wenn wir in diesen Tagen auf Ostern zugehen, dann in der begründeten Hoffnung, dass uns diese Liebe in Jesus Christus entgegenkommt.
„Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“
Amen.
(Wort zum Tag auf einer Veranstaltung der EAG in Bayern und Thüringen zur Sozialwahl 2017 in München am 1.4.17)
Auch dies ist Teil der grundstürzenden Wahrnehmungsänderung, die ich bei Jesus, seinen Jüngern und den Reformatoren wahrzunehmen meine.
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- Christlicher Glaube befreiend, Befreiung zum Handeln in Verantwortung vor Gott als Dienst am Nächsten
- Darauf basiert auch die Logik unserer sozialen Sicherungssysteme: Dienst am Nächsten – Subsidiarität als Prinzip Verantwortung
- Hasselhorn: Glaube ist nicht … Gottvertrauen bedeutet: Egal was passiert, welches Leid, welche Ungerechtigkeit auch immer über mich hereinbricht; an meinem Gott und dessen Heilszusage halte ich fest. Luther lehrt ein tiefes, unbeirrbares Vertrauen in die Vaterliebe Gottes. Gemeint ist damit aber kein weltfremdes Kuschelchristentum. Das Leid und die Ungerechtigkeit werden nicht wegdiskutiert oder kleingeredet. Auch die „Anfechtung“, das heißt der Zweifel und das immer wieder neue Ringen mit Gott, gehören zum Luthertum dazu. Luther selbst schreibt, dass Gott immer wieder sein „Nein“ über uns und unsere Existenz spricht. Lutherisches Gottvertrauen bedeutet, das nicht zu ignorieren, zugleich aber auch darauf zu vertrauen, dass Gott uns letztlich wohlgesonnen ist.