Liebe AEU-Mitglieder, liebe Gäste,
Kaum zu glauben, aber mit dieser Veranstaltung neigt sich unsere Reihe mit Referenten zum Jahresthema „Freiheit und Verantwortung“ dem Ende zu. Ich habe im Laufe des Jahres immer wieder versucht, auf dieses unser Jahresmotto unter einem jeweils anderen Gesichtspunkt Bezug zu nehmen. Heute – und da bietet sich der Kontext der Jahreslosung an – möchte ich ein paar Gedanken zu der Frage „Christlicher Freiheit in christlicher Gemeinschaft“ entfalten. Hören wir aber zuerst die Verse aus dem Römerbrief, die uns dabei anleiten (Römer 15,1-7):
Wir aber, die wir stark sind, sollen das Unvermögen der Schwachen tragen und nicht Gefallen an uns selber haben. Jeder von uns lebe so, dass er seinem Nächsten gefalle zum Guten und zur Erbauung. Denn auch Christus hatte nicht an sich selbst Gefallen, sondern wie geschrieben steht (Psalm 69,10): »Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.« Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, Christus Jesus gemäß,damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.
Es ist sehr hilfreich, diese Worte vor dem Hintergrund der spezifischen Konfliktlinien zu hören, mit der Paulus zeit seines Lebens als Apostel zu tun hatte – der zwischen Heiden- und Judenchristen. Immer wieder führte er in den Gemeinden Auseinandersetzungen mit judenchristlichen Lehrern des Evangeliums und mit charismatische, wohl heidenchristlichen Freigeistern, die dem sola gratia doch noch das ein oder andere Gesetz, die ein oder andere biblisch belegbare Verhaltensweise, das ein oder andere Verbot, die ein oder andere Moral , die ein oder andere geistliche Kunst beigaben – als Voraussetzung des Heilserwerbs wohlgemerkt bzw. als Schutz vor Heilsverlust.
Auch im Römerbrief diskutiert er solche Vorgaben: So glaubten nicht wenige, dass es Christen nicht erlaubt wäre, Fleisch zu essen, das vorher im Tempel den dortigen Göttern zum Opfer gereicht worden war. Denn damit erkennte man ja diese Götter an. Ja, man könnte sich damit sogar in ihre Machtsphäre begeben mit heillosen Folgen.
Solchen Gedanken kann man natürlich gerade in christlicher Freiheit widersprechen. Wer weiß, dass andere Götter nur ohnmächtige Götzen sind, weil er an den lebendigen Gott glaubt, der kann doch gerade ganz entspannt dieses Götzenopferfleisch essen. Keine Götzenopfergabe ist’s für ihn, sondern lediglich ein mehr oder minder schmackhaftes Stück Nahrung.
Diese Art von Konfliktlinien ist uns in unseren Gemeinden heutzutage fremd. Doch es gibt so manch anderes, was heute unter Christen strittig ist. Ich denke an so manche Themen, die das Feld der Ehe und der Sexualität berühren. Ich denke an Fragen, die den Anfang und das Ende menschlichen Lebens berühren, an den Umgang mit vorgeburtlichem Leben ebenso wie an die Frage eines wahrhaft menschlichen Sterbenkönnens.
Und ja, auch wir im AEU haben es immer wieder mit wesentlichen politischen und wirtschaftsethischen Konfliktlinien zu tun, die wir in unseren Veranstaltungen beleuchten.
Dabei wissen wir: unsere Welt ist nicht eindeutig. Sie ist voller Meinungen, Haltungen, Überzeugungen, Überlegungen, Wertungen, Prägungen, Erfahrungen, Begegnungen, Wahrnehmungen, Erkenntnissen. Und jeder von uns bringt dabei etwas anderes mit. Und was man jeweils mitbringt, das bleibt nicht gleich, das verändert sich auch im Laufe des Lebens immer wieder mal.
Erst kürzlich habe ich mit einem guten Bekannten telefoniert, der inzwischen drei Kinder hat. Der sagte er zu mir: „Früher habe ich das Kinderwahlrecht für eine ziemlich absurde Idee gehalten. Heute sehe ich das etwas anders.“
Konfliktlinien gibt es überall – selbst in den besten christlichen Gemeinden. Da, wo es sie nicht gibt, sind sie höchstens elegant verborgen. Konfliktlinien sind schlicht normal. Weil das so ist, ist es so gut, dass wir mit Paulus einen Zeugen haben, der uns eine Orientierung gibt, wie wir mit bestehenden Konfliktlinien lernen können umzugehen – als Menschen, denen christliche Freiheit etwas bedeutet.
Erstaunlich ist: Paulus gibt keinen Kriterienkatalog vor, nach dem wir bei Sachkonflikten zu entscheiden hätten. Keine Ethikfibel, keine Gebotesammlung, keine Kasuistik. Keine Menschenlehre, kein Weltbild, das uns Orientierung gibt. Keine wissenschaftliche Abhandlung, keine Rechtslehre, keine Tradition, die uns in eindeutiger Weise hilft.
Er weist vielmehr unseren Blick in eine bestimmte Richtung – an das Kreuz, wo in diesem einen Menschensohn Christus unsere Konflikte gehalten und, ja, gelöst sind. Wie, das wissen wir nicht. Wie, das kann uns auch Paulus im letzten nicht erläutern, so sehr er sich immer wieder müht. Aber in dem Mühen wird diese eine Wahrheit, dass „es vollbracht ist“, spürbar.
Ich befürchte, dass wir das immer wieder vergessen in den Konflikten, in denen wir uns bewegen, ja, in denen wir zerrissen sind, dass unsere Lösungen nur vor-läufige, begrenzte, mit Verfallsdatum versehene sind. Dass an unseren Urteilen sich nicht das Wohl und Wehe der Welt, der Kirche, der aus unserer Sicht verlorenen Seelen entscheidet.
„Es ist vollbracht“ – dem ist nichts mehr hinzuzufügen durch unser Vollbringen, geschweige denn durch unser Meinen und Urteilen, durch unser Hoffen und Glauben, durch unser Denken und Fühlen. Das anzuerkennen in den Konflikten, in denen wir stehen, eröffnet uns die Freiheit, in der Paulus die Gemeinde in Rom als Starke im Glauben anspricht. Starke im Glauben, weil sie jenseits des Punktes sind, wo sie Gefallen an sich selber, an ihrem eigenen Vollbringen, an ihren eigenen scheinbar entscheidenden Meinungen, Überzeugungen, Wertungen haben.
Diese Selbstgefälligkeit steht nämlich im Wege dessen, was uns als Gemeinschaft aufgetragen ist.
Es ist uns aufgetragen, einander zu gefallen „zum Guten und zur Erbauung“. Dahinter steht die Erkenntnis, dass wir den Bruder, die Schwester brauchen, die uns immer von neuem zusprechen: „Es ist vollbracht.“ Denn, wie Dietrich Bonhoeffer es einmal formuliert hat: „Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Wort des Bruders; jener ist ungewiß, dieser ist gewiß.“
Im Streit über Meinungen, ja, in der Entzweiung besteht immer die Gefahr, dass wir uns einander als Zeugen der Heilsbotschaft berauben. Ich frage mich: Ist es das wert?
Darum noch einmal der Blick auf Christus: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“
Wie Christus euch angenommen hat – im Plural, im Plural der Überzeugungen und Wertungen, der Haltungen und Prägungen präsent unter uns, aber eben als Gemeinschaft derer, die lernen, was es heißt, barmherzig zu sein zum Bruder, zur Schwester, so wie Gott durch Christus uns barmherzig war, die lernen, was es heißt, dem Bruder, der Schwester zu vergeben, so wie Gott durch Christus uns vergeben hat, die lernen, was es heißt, den Bruder, die Schwester zu lieben, so wie Gott durch Christus uns liebt.
Freiheit in Verantwortung – das ist, so würde ich formulieren, die Freiheit, in der unser Tun am Bruder, an der Schwester, rechte Antwort auf das wäre, was Gott in Christus an uns schon längst vollbracht hat – zu Gottes Lob.
Möge uns diese Freiheit in unserem Tagwerk geschenkt sein.
Amen.