What would Jesus do?

„What would Jesus do?“ ist sicherlich nicht eine der ersten Fragen, die man sich im Berufsalltag stellt. Was würde wohl passieren, wenn Sie in Ihrem Team, bei Ihren Führungskräften diese Frage als einen Orientierungspunkt für die Personalführung ausgeben würden, diese Vorgabe vielleicht sogar bei der jährlichen Zielvereinbarung festschreiben ließen? Welche Phantasien entfacht dieser Gedanke bei Ihnen, neben der offensichtlichen Erkenntnis, damit wahrscheinlich gegen die Antidiskriminierungsrichtlinie zu verstoßen? Wie würden Ihre Führungskräfte, Ihre Mitarbeiter reagieren? Was müssten Sie sich anhören – oder welche Sprüche würden wohl hinter vorgehaltener Hand geklopft werden?

Für diejenigen, die ein Maß an christlicher Sozialisation erlebt haben, mag diese Frage zumindest nicht völlig abseitig erscheinen. Denn sie folgt einer Wahrnehmung Jesu, die zum Kern christlicher Lebenspraxis zählt. An Jesus Christus gilt es sich zu orientieren, an seinem Zeugnis und seinem Tun, an seinem Vorbild:

Lasset uns mit Jesus ziehen, seinem Vorbild folgen nach, in der Welt der Welt entfliehen auf der Bahn, die er uns brach, immerfort zum Himmel reisen, irdisch noch schon himmlisch sein, glauben recht und leben rein, in der Lieb den Glauben weisen. Treuer Jesus, bleib bei mir, gehe vor, ich folge dir. (EG 384,1)

Laß uns in deinem Namen, Herrn, die nötigen Schritt tun. Gib uns den Mut, voll Glauben, Herr, heute und morgen zu handeln. (EG 634,1)

Zwei Beispiele aus unserem Gesangbuch, eines aus der Mitte des 17.Jahrhunderts und eines aus der Mitte des 20.Jahrhunderts, die illustrieren, wie selbstverständlich diese Jesusfrömmigkeit zur christlichen Existenz gehört.

Kein Wunder, denn diese Jesusfrömmigkeit ist gut biblisch. Sie folgt dem Ruf Jesu in die Nachfolge, etwa ausgedrückt in dem Wort aus dem Johannesevangelium: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh 8,12)

Sie folgt der Logik der Taufe als dem Ritus, der den Übergang in ein neues Leben in Christus markiert, so wie es Paulus im Römerbrief prägnant umreißt: Wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln? (Röm 6,3f.)

Immer wieder finden sich in der Kirchengeschichte Kronzeugen dieser Jesusfrömmigkeit. Viele Heiligenlegenden etwa sind nach dem Vorbild von Jesusgeschichten erzählt und dienen damit als Kontextualisierungen des Lebens Jesu in die jeweilige Zeit – oder, um unser Thema aufzugreifen, als illustre, zeitgemäße Antworten auf die Frage „What would Jesus do?“.

Und immer wieder haben sich auch christliche Autoren bemüht, diese Jesusfrömmigkeit zu beschreiben. Das wohl wirkungsgeschichtlich bedeutendste dieser Werke stammt von Thomas von Kempen, einem Augustiner-Chorherr aus dem 15.Jahrhundert, dessen Werk „Nachfolge Christi“ lange Zeit das meistverbreitete Buch nach der Bibel war und auch heute noch lesenswert ist. Sein vierteiliges Werkes setzt ein mit den programmatischen Worten: Wer die Lehre Christi in ihrer Fülle kennenlernen will / der muß mit allem Ernst darauf dringen / daß sein ganzes Leben gleichsam ein zweites Leben Jesu werde.

Hier knüpft auch das Buch an, das ich Ihnen heute quasi als literarische Vorlage für unsere Diskussion in Grundzügen vorstellen möchte und daran ein paar Beobachtungen anknüpfen, wie sich dort die Frage „What would Jesus do?“ entfaltet.

Über 100 Jahre ist es her, dass der kongregationalistische Pfarrer Charles M.Sheldon „In His Steps“ veröffentlichte. Nun mag man sich fragen: Was hat dieser Roman uns heute noch zu sagen? Seine wirkungsgeschichtlich bedeutendste Zeit ist schon länger vorbei. Bis Mitte der 1930er Jahre wurde es in immerhin 21 Sprachen übersetzte. Und es wird bis heute noch publiziert, was man sicher nicht von den meisten Büchern vom Ende des 19.Jahrhunderts sagen kann.

Die entscheidende Spur, die das Buch legt, wurde in der 1990ern wieder aufgegriffen – in der Jugendarbeit. „What would Jesus do?“ – die entscheidende Frage, die sich die Protagonisten in dem Buch stellen, wurde zum Thema gemacht in Jugend- und Konfirmandengruppen.

Auch ich habe meinem Konfirmandenkurs für eine Woche immer eine kleine Hausaufgabe mitgegeben: „Nehmt die Frage „Was würde Jesus tun?“ mit und stellt sie euch mindestens einmal am Tag in einer Situation und führt darüber Tagebuch.“ Oft, das habe ich noch in Erinnerung, ging es dann um Streit, Konflikte – und um die Frage, wie man dabei Frieden stiften könnte. Oder es ging um Störungen und Verstörungen, Irritationen – und dann natürlich um die Frage, wie solche Verstörungen wieder behoben werden können.

Eine Störung, die zu einer Verstörung wird, ist auch der Auslöser für die Geschichte, die sich in Charles M. Sheldons Buch entfaltet. Henry Maxwell, der Pfarrer einer gut situierten, bürgerlichen Gemeinde, wird bei der Predigtvorbereitung von einem Penner (so denkt er es selbst) gestört. Dieser Mann hat erst seinen Job verloren und sucht Hilfe beim Pastor. Der ist genervt statt hilfsbereit. Immerhin wurde er aus seinen hochtrabenden Gedanken gerissen. Er schickt den Mann weiter mit dem Wunsch, irgendwo doch eine Arbeit zu finden. Doch der lässt sich nicht so einfach abschütteln.

Am Sonntag taucht er im Gottesdienst auf und erhebt nach der Predigt das Wort vor der Gemeinde. Er beschreibt sein Leben, ohne anzuklagen: Als Drucker hat er vor zehn Monaten seine Arbeit verloren. Maschinen erledigen jetzt seinen Job. Vor vier Monaten verstarb seine Frau. Seitdem ist er unterwegs, auf der Suche nach Arbeit. Seine Tochter hat er bei Freunden zurückgelassen. Gefunden hat er bisher nichts Dauerhaftes. Aber er hat einige Beobachtungen gemacht, Beobachtungen, die zu Fragen führen, die er nun mit der Gemeinde teilt:

„Euer Pastor hat euch heute gesagt, dass ein Jünger von Jesus ihm folgt… Aber was meint ihr Christen damit? Ich war drei Tage in eurer Stadt auf der Suche nach einem Job; in dieser ganzen Zeit hat mir niemand ein freundliches Wort geschenkt außer euer Pastor… Ich nehme an, ihr habt euch von mir ferngehalten, weil euch professionelle Bettler schon oft genug angegangen haben. Ich mache euch keine Vorwürfe, stelle nur fest. Ich weiß, ihr könnt nicht jedem einen Job geben, aber ich frage mich schon… Was meint ihr, wenn ihr singt: „Ich gehe mit Jesus, bis zum Ende?…Mir erscheint es so: Die Welt ist voller Probleme, die vielleicht nicht existieren würden, wenn alle Menschen, die solche Lieder voller Inbrunst singen, voller Inbrunst auch danach handeln würden. Ich vermute jedoch, ich verstehe hier etwas nicht ganz richtig. Aber heißt nicht: Jesus nachfolgen sich die Frage zu stellen: Was würde Jesus tun?“

Diese Worte sind sicherlich harter Tobak. Und sie mögen uns in ihrer Wortwahl auch fremd sein. „Jesus nachfolgen“ – das ist nicht unbedingt die Art und Weise, wie wir zum Ausdruck bringen, was es heißt, ein Christ zu sein. Aber die Anfragen, so denke ich, bleiben.

Die Geschichte geht weiter, dramatisch. Nach seiner kurzen Rede bricht der Mann zusammen, am Altar, und stirbt. Und dieser Tod verändert diese wohl situierte bürgerliche Gemeinde für immer. Am nächsten Sonntag lädt der Pfarrer nach seinem Gottesdienst all jene ein, die sich diese Frage des verstorbenen Mannes stellen wollen. Für ein Jahr verpflichten sie sich, diese Frage in ihren Alltag mitzunehmen.

Und dieses Jahr hat es in sich: Der Herausgeber einer örtlichen Tageszeitung beschließt, am Sonntag keine Zeitung mehr zu drucken. Würde das etwa Jesus tun? Oder ist der Sonntag nicht für etwas anderes da? Natürlich stößt er auf Widerstand. Abonnenten kündigen und auch Anzeigenkunden. Betriebswirtschaftlich sind seine Entscheidungen eine Katastrophe. Und doch bleibt er in seinem Weg unbeirrt.

Der Geschäftsführer einer Eisenbahngesellschaft entdeckt, dass Lieferlisten gefälscht und damit systematisch Steuern hinterzogen werden. Nach intensivem innerem Ringen deckt er den Betrug auf und kündigt – wohl wissend, was dies für ihn und seine Familie bedeutet.

Eine reiche Erbin überlegt, was sie mit ihrem Geld anfängt. Im Laufe der Geschichte begegnet ihr in ein Mädchen, das von Alkohol und Missbrauch gezeichnet ist. Nachdem sie diese in ihrem Haus aufnimmt und diese dann doch einen gewaltsamen Tod stirbt, beschließt sie, Unterkünfte für solche vom Leben gezeichneten Menschen mit ihrem Geld zu finanzieren. Bei all dem handelt sie gegen den erklärten Willen ihrer Großmutter, da sie sehr deutlich gegen die ungeschriebenen Gesetze der Upper Class verstößt.

All dies klingt dramatisch – und es ist auch das gute Recht eines Romans, eine gute Dramaturgie walten zu lassen. Entscheidend ist: Die Frage „Was würde Jesus tun?“ hinterlässt Spuren im Leben der einzelnen Menschen. Noch mehr: Diese Spuren greifen ineinander.

Einen Teil des Geldes investiert die reiche Erbin in die Tageszeitung des Herausgebers, damit dieser sie so umgestalten kann, dass sie dem Anspruch der Frage „Was würde Jesus tun?“ entspricht. Investorin aus Überzeugung also.

Der Geschäftsführer der Eisenbahngesellschaft lädt seinen Pastor ein, einmal die Woche in der Kaffeepause zu seinen Mitarbeitern zu sprechen – eine Aufgabe, die dieser am Anfang nur sehr zögerlich annimmt, da er gar nicht weiß, was er solch einem Arbeitervolk erzählen kann. Aber diese wöchentlichen Zusammenkünfte bleiben, auch nachdem der Geschäftsführer seinen Hut genommen hat.

Und die Dynamik der Frage „Was würde Jesus tun?“ ergreift diese Gemeinde immer mehr. Bei den Kommunalwahlen stellen sie eine eigene Liste auf. Menschen, die sich sonst nie für Politik interessiert haben, weil sie es für ein schmutziges Geschäft hielten, sehen nun eine Aufgabe darin, ihr Gemeinwesen mitzugestalten.

Ich muss hier leider einen Punkt setzen, was die Nacherzählung von Charles Sheldon’s Buch angeht. Bei weitem ist hier noch nicht alles erzählt. Ich hoffe jedoch, dass diese wenigen Absätze reichen, um Ihnen einen Eindruck von der Idee zu verschaffen, die dieses Buch entfaltet. Denn ich möchte daran einige Überlegungen anschließen, die sich für mich aus der Lektüre des Buches ergeben haben und zum Weiterdenken anregen.

Zunächst natürlich die Frage: Was passiert hier eigentlich? Ich würde es so formulieren: Eine Kirchengemeinde wird zur Entdeckungs-gemeinschaft. Sie entdeckt gemeinsam, was es heißt, mit der Frage „Was würde Jesus tun?“ ernst zu machen. Und sie sammelt dabei ihre Erfahrungen. Diese Erfahrungen greifen erstaunlicherweise ineinander – sie führen zu einer gemeinsamen Wahrnehmung und zu einem gemeinsamen Urteil. Und dieses Urteil entfaltet dadurch nicht nur persönliche, sondern auch politische Relevanz. Es verändert die gemeinsame Welt, in der die Gemeinde lebt. Aber diese Veränderung lässt sich nicht antizipieren. Sie entfaltet sich vielmehr im Miteinander der verschiedenen Lebensstränge, die ineinander greifen. Dabei ist entscheidend, dass die Menschen anfangen, mit Ernst sich diese eine Frage zu stellen und vor den Antworten auf diese Frage nicht zurückzuscheuen.

Das führt mich zu meiner zweiten Frage: Warum ist das überhaupt möglich? In der Frage: „What would Jesus do?“ steckt eine besondere, eine schöpferische Kraft. Und diese Kraft liegt darin begründet, dass sich mit dieser Frage neue Assoziationsräume eröffnen. Was vorher nicht sein durfte oder möglich schien, erscheint auf einmal denkbar und machbar. Die schöpferische Kraft dieses Assoziationsfeldes liegt darin begründet, dass sich Menschen mit dieser Frage in eine andere Geschichte begeben, der sie Glauben schenken und ihr Relevanz für ihr Leben zubilligen: der Geschichte Jesu. Ja, sie billigen ihr im Laufe der Zeit mehr Glauben und Relevanz zu als anderen Geschichten, anderen skripts, die ihr Leben bis dato prägen. Der Geschichte etwa, wie man sich als reiche Erbin zu benehmen hätte, der Geschichte, wie man eine erfolgreiche Zeitung zu machen hat, der Geschichte, dass ein Maß an Schlitzohrigkeit zu einem erfolgreichen Geschäft gehört.

Bisher standen diese Geschichten alternativlos und deswegen auch unreflektiert für sich. Man hat gar nicht darüber nachgedacht – oder nachzudenken gewagt, dass es auch anders ginge. Die Frage „What would Jesus do?“ stellt neben diese Geschichten nun andere Geschichten, biblische Geschichten, Jesus-Geschichten. Was alternativlos erschien, wird nun nicht mehr als alternativlos gesehen. Man kann es auch anders machen, wenn man sich denn traut, diesen anderen Geschichten mehr Glauben zu schenken, ihren Wahrheitsgehalt im eigenen Leben zu erproben.

Schließlich noch eine Beobachtung: Die Menschen, die sich die Frage „What would Jesus do?“ ernsthaft stellen, begegnen Widerständen, inneren wie äußeren – und sie zahlen immer einen Preis. Immer wieder neu stellen sie sich Fragen wie: Was bin ich bereit zu ertragen, loszulassen, zu wagen, ohne Netz und doppelten Boden? Aber – und das mag vielleicht etwas idealtypisch dargestellt sein – diese Fragen verlieren an Bedeutung, weil dem, was man verliert, etwas gegenübersteht, das man als größeren Gewinn zu begreifen versteht. Das eigene Wertesystem, so würde man heute sagen, verschiebt sich. Mit anderen Worten: Die Frage „What would Jesus do?“ ist alles andere als harmlos. Aber sie scheint sich zu lohnen.

Natürlich erzählt Sheldon eine mehr als stringente Geschichte. Die Protagonisten erfahren eine relativ ungebrochene Entwicklung. Niemand scheitert an der Frage „What would Jesus do?“. Jeder hat Erfolgserlebnisse. Innerkirchliche Diskussionen gibt es nur am Rande. Diejenigen, die in der Gemeinde nicht mitmachen, tauchen praktisch nicht auf. Einmal wird erwähnt, dass sich einige eine neue Gemeinde gesucht haben. All das muss man im Blick haben.

Dennoch lohnt es sich, einmal zu fragen: Was könnte diese Frage „What would Jesus do?“ in der betrieblichen Praxis provozieren? Natürlich kann jeder sich diese Frage zunächst einmal in einer konkreten Situation stellen, vielleicht sogar, wie in dem Buch empfohlen, mit dieser Frage eine Zeit lang bewusst schwanger gehen. Die Frage würde sich dann etwa so stellen: „Was würde Jesus mit diesem Mitarbeiter von mir eigentlich tun?“ Und wenn ich’s weiß: „Was hindert mich daran, diesem Beispiel zu folgen?“ Was würde da passieren?

Ich sehe darüber hinaus auch strategisches Potential. Wenn die Frage „What would Jesus do?“ neue Assoziationsräume eröffnet, dann könnte sie Impulse setzen, wo es alternativlose Geschichten oder gar Denkverbote im Unternehmen gibt. Sie könnte wohltuend irritieren und dadurch einen schöpferischen Prozess anstoßen, sie könnte Entdeckungen ermöglichen, die wohltuende Veränderungen anstoßen. Spannend wird dann sicherlich werden, wer bei solch einem Erkundungsprozess dabei ist – und wer eher in den Widerstand geht. Inwiefern hier ein freiwilliges Vorangehen mit denen möglich ist, die mitziehen, dürfte sicherlich einer der Schlüsselfragen im Prozess sein.

„What would Jesus do?“ Diese Frage könnte noch wesentlich grundlegender gefragt werden. Sie könnte auch Ausgangspunkt dafür sein, die eigentlichen Fragen neu stellen lassen. „Wozu eigentlich sind wir als Unternehmen, als Organisation auf dieser Welt? Was ist der echte Mehr-Wert, den wir schaffen sollen für die Menschen in unserem Umfeld? Was ist die Aufgabe, die uns gestellt ist, das Thema, um das wir uns kümmern sollen, der Auftrag, den wir wahrnehmen sollen? Und was fangen wir tatsächlich mit dem an, was uns anvertraut ist?“

Ich denke, solche Fragen können reizvoll im doppelten Wortsinn sein, da sie wortwörtlich an die Substanz gehen können. Sie können dabei große Widerstände aufwerfen, innere wie äußere. Sie mögen einiges kosten. Aber dennoch glaube ich: Sie zu stellen, lohnt sich.

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