„Mitten in dem Tode sind wir vom Leben umfangen“

„Media vita in morte sumus.“ So beginnt ein gregorianischer Choral des 8.Jahrhunderts, den Martin Luther im Jahr 1524 wie folgt vertont hat: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen. Wer ist, der uns Hilfe bringt, dass wir Gnad erlangen?“ Diese Zeilen finden sich nicht nur im Evangelischen Gesangbuch, sondern auch im Gotteslob. Ökumenisch, also welt- und menschheitsumspannend ist die Erkenntnis, die diesen Zeilen zugrunde liegt: Wir Menschen sind und bleiben Sterbliche. Das ist unsere Realität.

Im Mittelalter waren diese Zeilen Ausdruck einer Kunst, die uns Heutigen im Zuge der Hospizbewegung wieder neu vertraut geworden ist, die ars moriendi. Zu leben heißt sterben zu können, dies aber eben nicht erst am Sterbebett. Dort scheint sich vielmehr nachdrücklich zu offenbaren, wie man gelebt hat. Ein mir bekannter Arzt drückte das einmal so aus: „Ich habe so viele Menschen im Krankenhaus erlebt, die sich ans Leben geklammert haben, die wollten, dass man alles tut, was nur möglich ist, damit sie noch einen Atemzug länger leben können. Und wissen Sie, was mir dabei aufgefallen ist? Gerade denen, die besonders geklammert haben, hat eigentlich grundsätzlich eine Idee zum Leben gefehlt.“

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“ Oder anders gesagt: Sterben lernen heißt leben lernen. Was aber kann das bedeuten? Nahezu tagtäglich erlebe ich Sterbefälle in meiner jetzigen Aufgabe. Ich bin nicht mehr als Seelsorger im Krankenhaus tätig wie noch vor einigen Jahren, sondern arbeite unter anderem in einer Krankenkasse als Gesprächspartner für Mitarbeitende in Krisen- und Übergangszeiten.

In den meisten Situationen geht es dort nicht um den finalen Exitus, aber doch liegt etwas im Sterben oder wird betrauert, etwa bei Umstrukturierungen. Betriebliche Veränderungsprozesse erleben viele als Trauerprozesse. Verloren gehen für Mitarbeitende vertraute Aufgaben, eine vertraute Arbeitsumgebung, vertraute Kolleginnen und Kollegen. Das Alte ist vergangen. Das ist anzuerkennen, damit muss man umgehen und am Ende einen Weg für sich finden. Das kann bedeuten, seinen Platz und seine Rolle in der neuen Situation zu finden und zu definieren. Das kann aber auch heißen, zu sehen und zu akzeptieren: so wie es jetzt ist, passt es nicht mehr zu mir – mit der Konsequenz, sich selbst neu zu orientieren.

Oft setzt der Trauerprozess nicht erst dann ein, wenn gestorben wird. Das erlebe ich gerade bei den Mitarbeitenden, deren Eltern oder Schwiegereltern pflegebedürftig werden. Getrauert wird da bereits, wenn die Eltern ins Pflegeheim wechseln und das Haus, in dem man aufgewachsen ist, ausgeräumt wird. Lebenserinnerungen brauchen auf einmal eine neue Form, da sie nicht mehr an einem vertrauten Ort geweckt werden können. Besonders schwer ist es, wenn ein geliebter Mensch durch Demenz oder Alzheimer sein Erinnerungsvermögen verliert. Wie schmerzhaft, wenn man vom eigenen Vater, der eigenen Mutter nicht mehr erkannt wird! Als Kind wird man zum Fremden. Wie soll, wie kann man das akzeptieren, wie damit umgehen, wie Abschied nehmen von einem Menschen, der noch da ist, aber von dem schon viel verschwunden ist?

Persönlich besonders mitfühlen kann ich bei den Mitarbeitenden, die als Eltern Schritt für Schritt ihre Kinder loslassen. Kürzlich erzählte mir eine Mutter, wie in die Freude über den Schulstart ihrer Ältesten sich auch Ängste und Sorgen mischen – und auch das Gefühl, nicht mehr so wichtig zu sein. „Früher habe ich sie zum Kindergarten gebracht. Heute geht sie alleine zum Schulbus. Dann ist sie aus der Tür und einfach weg. Und ich denke mir: hoffentlich geht alles gut, hoffentlich sind alle nett zu ihr.“ Das Älterwerden von Kindern ist mit Kontroll- und Bedeutungsverlust der Eltern verbunden. Das muss man erst einmal für sich klarbekommen.

Das Leben besteht aus kleineren und größeren Sterbe- und Trauerfällen. Das macht es fordernd und zuweilen auch sehr anstrengend. Wie und wo aber kann man die Kraft finden, damit zurechtzukommen? Martin Luther hat das „media vita in morte sumus“ weiter gedacht. Er schrieb: „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen – kehr’s auch um: Mitten in dem Tode sind wir vom Leben umfangen“.

Das vielfältige Sterben im Leben ist nicht die letzte Realität. Das Sterben, welches das Leben umgibt, ist noch einmal von einem Leben umhüllt, das uns leben lässt. „Am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel.“ So bekennen wir Christen es von Jesus Christus, dessen Leben und Sterben uns diese Hülle des Lebens um unser Sterben enthüllt hat. Mit anderen Worten: Wenn wir den auferstandenen Christus bekennen, sagen wir über Gott, dass er in unserem Sterben im Leben das gibt, was wir zum Weiterleben brauchen. Darauf dürfen wir vertrauen, im Leben wie im Sterben.

(veröffentlicht im Pfarrbrief der Pfarreiengemeinschaft Herzogenaurach)

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